Ein einsames Mädchen im Neonlicht der Nacht


- eine Kritik zu Ben Niao, english version below

Prüfend gucke ich während der letzten Szene auf die Uhr. Tatsächlich. Zwei Stunden sind nun vorüber und der Film müsste jeden Moment zu Ende sein. Wie unpassend dieses Ende auch wirkt.
Nach dem Abspann gleitet der Vorhang zu, es wird höflich, jedoch recht dünn applaudiert. Allzu schnell kehrt wieder Ruhe ein, das Team betritt die Bühne bereits wieder vor stillem Saal.

118 Minuten begleiten wir die Protagonistin Lynn durch ihren Alltag in einem chinesischen Dorf. Sie geht zur Schule, trifft sich mit ihrer Freundin May und radelt durch die leeren Straßen - zu jeder Tageszeit. Ihre Mutter lebt in der Stadt, um Geld für die Familie zu verdienen. Lynn hat sie bei den Großeltern gelassen.

Was Ben Niao gut aufgreift ist dieses Familienszenario. Wie in einer Szene sehr deutlich wird, gehört es in China quasi zum Alltag, dass Kinder und Jugendliche in ländlichen Gegenden bei ihren Großeltern leben, weil die Eltern in der Stadt arbeiten. Im Publikumsgespräch wird klar, dass genau diese Verdeutlichung auch Intention des Filmes war. In China kann man nämlich nicht einfach mit der ganzen Familie in eine Stadt ziehen. Jede Person ist in ihrer eigenen Region registriert und müsste viele Anträge durchlaufen, um überhaupt die Umzugserlaubnis zu bekommen, weswegen Eltern ihre Kinder oft zurücklassen müssen.

Dabei bleibt es allerdings schon, denn die restliche Botschaft, der restliche Inhalt des Film ist bis zuletzt eher unklar. Viele Fragen bleiben offen, beim Publikumsgespräch weiß keiner so recht, was er fragen soll, weil man schlichtweg keinen Anfang findet.

Schleppend zieht sich die Handlung dahin. So kommt zwar zum Ausdruck, wie einsam das Landleben in China sein kann, allerdings sticht in diesem Film nichts sonderlich hervor, obwohl eigentlich viele wichtige Themen angesprochen werden. Vergewaltigung, Jugendkriminalität, Mobbing, die Ausbeutung der Ärmsten durch Glücksspiele und Werbefallen, Geschlechtskrankheiten, das Gefühl, sich für die eigene Zukunft sexuell ausnutzen lassen zu müssen. All das wird hier angeschnitten, verschwimmt aber im rötlichen Neonlicht von Lynns nächtlichen Streifzügen zu einer einzigen obskuren Masse.

Etwas mehr kann man dieser Produktion abgewinnen, wenn man erfährt, dass die Regisseurin große Teile des Films aus ihren eigenen Erfahrungen abgeleitet hat. Dadurch sieht man das Werk noch einmal mit anderen Augen, lässt die musiklosen Szenen anders auf sich wirken. Und doch bleibt das Passive, die bloße Rolle des Beobachters. Man wird ganz einfach nicht mitgerissen.

Ich sehe das Potenzial in diesem Film. Kann auch die Darstellung dieser Art zu leben anerkennen. Doch hätte man aus alledem viel mehr machen können. Weniger viele Themen anreißen und sich stattdessen eingehender mit ausgewählten Problematiken auseinandersetzen.

Zwar bereue ich nicht unbedingt, diesen Film in mein volles Kinoprogramm gerückt zu haben, allerdings wird er mir nicht für sonderlich lange Zeit in Erinnerung bleiben. Die Frage nach dem Mehrwert bleibt bestehen, direkt neben den ganzen anderen Fragen, die ich noch an diese Geschichte habe.
Vielleicht muss ich aber auch einfach noch lernen, mich mit der Rolle des Beobachters zufrieden zu geben und nicht 100% des Filmes mitzufühlen.


A lonely girl in the night's neon lights

I look at my watch - and really. Two hours have passed and the film should be over any minute now. However unfitting it may seem. The curtain falls, polite applause. Too soon it fades away, the team reaches the stage silence.

118 minutes were spent with protagonist Lynn watching her daily life in a small Chinese town. She attends school, meets her friend May and bikes around empty streets at any time of the day. Her mother lives far away to earn money, leaving Lynn behind with her grandparents.

Ben Niao portrays this family scenario quite well. In one scene it become clear that a family situation in which children in rural areas live with their grandparents so their parents can work in the city is well known for many Chinese kids. The director explains: that was exactly her intention. In China, every person is registered in their area and it would be quite hard for children to move with their parents. That’s how many families are torn apart for long periods of time.

The rest of the movie stays unclear to me. Many questions are unanswered, in the following Q&A nobody really knows where to start.

The plot is dragging. That underlines the loneliness of Chinese country life, but at the same time nothing actually stands out. Many topics are scratched. Rape, youth criminality, bullying, exploitation of the poorest, venereal diseases, selling one’s own body in order to start a successful career. These topics are broached, but disappear into the blurry neon light of the night.

One does see the movie with different eyes when they know many of the facets were inspired by snippets of the directors own life. Still, the passive role of an observer remains. You simply don’t get carried away.

I can see potential in this movie and respect the portrayal of this way of life. But a lot of the potential went unused. It might have been better to address less problems of society and dig a little deeper on their account.

I certainly do not regret choosing to watch this movie. However, I still can’t grasp the added value I gained, which is usually something I look for in a good Berlinale movie.


12.02.2017, Johanna Gosten

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